Essstörungen werden nicht durch falsches Essen verursacht, sondern haben ihre Ursache meist in umliegenden Lebensumständen und stehen oft in Verbindung mit gesellschaftlichem Zwang. Das eigene Wohlbefinden und Verhalten stehen in engem Zusammenhang mit Gewicht und Körperform.
Das sollten Sie über Essstörungen wissen
Entstehung
Bei der Entstehung von Essstörungen geht man, wie bei den meisten psychischen Erkrankungen, davon aus, dass viele Faktoren ursächlich eine Rolle spielen.
Diese Faktoren, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung eine Rolle spielen, lassen sich im Wesentlichen in vier übergeordnete Bereiche zusammenfassen: Soziokulturelle Faktoren, individuelle Belastungsfaktoren, familiäre Faktoren, und biologische Faktoren.
Zu den soziokulturellen Faktoren zählt das vorherrschende Schlankheitsideal. Das immer unrealistischer werdende Figurenideal begünstigt eine anorektische und bulimische Symptombildung in Konfliktsituationen.
Zu möglichen individuellen Belastungsfaktoren bei Magersucht (Anorexia nervosa) und Bulimie (Bulimia nervosa) zählen Probleme mit dem Selbstwert, Überforderung durch Bezugspersonen, zwischenmenschliche Konflikte, soziale Unsicherheiten und Ängste, sexuelle Konflikte sowie Traumata und Gewalt.
Die Entstehung von Essstörungen hängt oftmalig auch mit familiären Beziehungsmustern zusammen. Kennzeichen von Familien magersüchtiger Patientinnen und Patienten können ein starker familiärer Zusammenhalt, hohe Leistungsorientierung, Überbehütung, Konfliktvermeidung, Harmoniegebot, Mangel an Konfliktbewältigungsstrategien und starke emotionale Verbundenheit sein. In Familien bulimischer Patientinnen und Patienten wird ein eher impulsiver, konflikthafter Kommunikationsstil beobachtet.
Biologische Faktoren können in Kombination mit anderen Ursachen ebenfalls eine Rolle in der Entstehung von Essstörungen spielen. Ein Mangel von Serotonin könnte bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychogenen Essstörungen eine Rolle spielen. Es ist bekannt, dass Patientinnen und Patienten mit Essstörungen oftmalig ausgeprägte depressive Syndrome zeigen und dass sie häufig ähnliche körperliche Auffälligkeiten aufweisen wie Patientinnen und Patienten mit depressiven Erkrankungen. Als Risikofaktor gilt zudem ein biologisch höheres Gewicht bei normaler Nahrungsaufnahme. Das angestrebte Schlankheitsideal kann nur durch ein stark vermeidendes Essverhalten erreicht werden, wodurch die Wahrscheinlichkeit von Störungen im Essverhalten (z.B. Diät) erhöht wird.
Typische Erlebens- und Verhaltensweisen (Körperbild)
Das Selbsterleben von Personen mit Essstörungen dreht sich um die eigene Figur, das Körpergewicht, um Essen und die Nahrungsaufnahme.
Die Selbstbewertung, ich bin zu dick und die Angst davor, Gewicht zuzunehmen, kommen oftmals auch bei gesunden jungen Betroffenen vor und stehen im Zusammenhang mit dem Schlankheitsideal, das von Medien und Öffentlichkeit vermittelt wird. Krankheitswertig werden solche Gedanken und Befürchtungen dann, wenn sie viel Raum einzunehmen beginnen, Betroffene sich gar nicht mehr distanzieren können und wenn sie unangemessene, gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen zur Folge haben.
Das Körperbild
Körperbildstörungen sind ein zentrales Diagnosekriterium bei Essstörungen und beinhalten verzerrte Wahrnehmungen, Bewertungen und Verhaltensmuster. Körperbildstörungen beinhalten eine Körperwahrnehmungsstörung. Es kann eine Verzerrung der Wahrnehmung des Körperumfangs vorliegen. Diese ist häufig verbunden mit einer spezifischen Aufmerksamkeitsverteilung dem eigenen Körper gegenüber, z.B. Zuwendung zu oder Abwendung von bestimmten Körperstellen oder bestimmte Blickbewegungen bei der Körperbetrachtung im Spiegel. Es zeigte sich bei Untersuchungen von Betroffenen mit Essstörungen, dass diese häufiger und länger auf jene Körperzone schauten, mit der sie besonders unzufrieden waren (defizitorientierte Betrachtungsweise des eigenen Körpers). Gesunde Personen schauten etwa gleich häufig und gleich lange auf jene Körperstelle mit der sie sehr zufrieden bzw. unzufrieden waren. Ein anderes Beispiel einer Wahrnehmungsverzerrung sind ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme trotz bestehenden Untergewichts bei Magersucht.
Körperunzufriedenheit
Eine zweite Komponente der Körperbildstörung beinhaltet eine Körperunzufriedenheit, z.B. negative Einstellungen und Bewertungen bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes, verbunden mit negativen Gefühlen wie Ekel oder Ablehnung des Körpers. Bei der Bulimie wird die Selbstbewertung übermäßig stark von Gewicht und Figur abhängig gemacht.
Und schließlich gibt es eine verhaltensbezogene Komponente, die sich einerseits in einem willentlich gesteuerten Vermeidungsverhalten äußert, z.B. negativ bewertete Körperzonen werden durch das Tragen weiter Kleidung kaschiert. Andererseits kann sich ein Körperbildproblem auch in entgegengesetzter Richtung als Kontrollverhalten in Form von übertriebener Beschäftigung mit dem eigenen Körper zeigen, z.B. mehrmaliges Wiegen pro Tag oder body checking, also häufiges Überprüfen bestimmter Körperteile.
Typische essstörungsspezifische Verhaltensweisen
Beispiele zur Einschränkung der Nahrungszufuhr:
- Häufiges Wiegen
- Kalorien zählen
- Vermeidung von Nahrungsmitteln, die als zu kalorienreich eingestuft werden
- Verwendung von Light-Produkten und Zuckerersatzstoffen
- Verwendung von Kaffee, Zigaretten, eventuell Appetitzüglern zur Appetitkontrolle
- Aufnahme großer Flüssigkeitsmengen um die Nahrungsaufnahme zu begrenzen
- Auslassen von Mahlzeiten, häufig Beschränkung auf eine Mahlzeit pro Tag
- Vermeiden von Essen in Gemeinschaft
Beispiele für gegensteuernde Maßnahmen:
- Erbrechen nach den Mahlzeiten
- Exzessiver Sport zum Zweck der Kalorienverbrennung
- Einnahme von Abführmitteln
Umgang mit Betroffenen
Der Umgang mit Krankheit fällt generell schwer. Krankheiten wie Magersucht oder Bulimie konfrontieren uns mit Herausforderungen, wie sie bei keiner anderen Krankheit anzutreffen sind.
So gehört es zu den Besonderheiten der Magersucht, dass körperlich gesunde, junge Menschen allein durch selbstauferlegtes Hungern bis in den Bereich bedrohlicher Funktionsstörungen gelangen oder sogar sterben. Die Betroffenen verleugnen oftmalig ihren körperlichen Mangelzustand und dessen Folgen vor sich und der Umwelt. Konfrontiert mit den Herausforderungen dieser Erkrankung werden zumeist die Angehörigen.
Als erster Schritt ist es wichtig, das Problem anzusprechen. Planen Sie ein privates und ungestörtes Treffen. Nehmen Sie sich vor, direkt zu sein, aber vermeiden Sie nach Möglichkeit jeden Streit, da dadurch nur Widerstand und Ablehnung provoziert werden. Beschreiben Sie in aller Ruhe ihre Beobachtungen und geben Sie der betroffenen Person die Möglichkeit zu antworten. Fragen Sie die betroffene Person, ob sie selbst Veränderungen bemerkt hat und ob sie etwas beunruhigt. Machen die Zeichen, die Sie wahrgenommen haben, ihr selbst irgendwelche Sorgen? Kann sie diese erklären? Es kann sein, dass Sie als Angehörige bei so einem Gespräch auf Abwehr, Verleugnung und Zorn stoßen. Seien Sie auf solche Reaktionen gefasst. Lassen Sie sich allerdings nicht in einen sinnlosen Streit hineinziehen. Auch wenn Sie sich abgelehnt fühlen, ziehen Sie sich, wenn möglich, nicht gekränkt zurück. Versuchen Sie der betroffenen Person zu signalisieren, dass Sie ihr zugehört haben und versuchen Sie zu verstehen.
Wenn die Essstörung fortgeschritten ist, dann kommt es sehr häufig zu Störungen in der Kommunikation im Familiensystem. Machtkämpfe und direkte Konfrontationen führen meist zu noch mehr Anspannung innerhalb des Familiensystems. Diese Verhaltensweisen entstehen oftmalig aus Machtlosigkeit und dem intensiven Gefühl von Sorge um die das betroffene Familienmitglied. Zur Entlastung des Familiensystems ist eine baldige Kontaktaufnahme mit professioneller Hilfe notwendig.
Schritt für Schritt zur Krankheitsbewältigung
- Informieren Sie sich über Essstörungen
- Führen Sie ein offenes Gespräch mit der betroffenen Person. Vermeiden Sie Schuldzuweisungen
- Ermutigen Sie die betroffene Person zu einem Beratungsgespräch
- Veranlassen Sie eine ärztliche Untersuchung
- Kontaktieren Sie eine für Essstörungen spezialisierte Einrichtung
- Denken Sie auch an sich selbst
Wenn Sie die betroffene Person ansprechen, behalten Sie die folgenden Punkte im Gedächtnis:
- Vermeiden Sie es, über Essen oder Gewicht zu diskutieren, darum geht es eigentlich nicht.
- Versichern Sie der betroffenen Person, dass sie nicht alleine ist und dass Sie sie gerne haben und ihr, wo immer Sie können, helfen wollen.
- Ermutigen Sie die betroffene Person, Hilfe anzunehmen.
- Zwingen Sie die betroffene Person niemals, etwas zu essen.
- Gehen Sie nicht auf das Körpergewicht oder das Aussehen der betroffenen Person ein.
- Machen Sie der betroffenen Person keine Vorwürfe, auch wenn Sie ärgerlich oder verzweifelt sind.
- Seien Sie geduldig, eine positive Veränderung braucht Zeit.
- Streiten Sie nicht über das Essen.
- Hören Sie der betroffenen Person zu, geben Sie keine übereilten Meinungen oder Ratschläge ab.
Versuchen Sie nicht, die Rolle einer Therapeutin bzw. eines Therapeuten zu übernehmen.
Früherkennung von Essstörungen
Störungen des Essverhaltens sind von echten Essstörungen zu unterscheiden, sie können ein Vorbote von Erkrankungen aus dem Essstörungsbereich sein.
Unter Störungen des Essverhaltens fällt das gezügelte Essen. Dies beschreibt eine andauernde, willentliche Einschränkung der Nahrungsaufnahme zum Zweck der Gewichtabnahme- oder kontrolle. Es kann sich in wiederholten Schlankheitsdiäten oder im Dauerhungern äußern. Zu Störungen des Essverhaltens zählt ebenfalls, dass man sich bestimmte Nahrungsmittel verbietet, das Auslassen von Mahlzeiten, Sport zu betreiben mit dem Ziel abzunehmen, der vorwiegende Konsum von Light Produkten und vieles mehr.
Essgestörtes Verhalten ist, für sich genommen, keine Krankheit. Nicht jede Person, die ihre Nahrung kontrolliert und dabei ein paar Kilogramm verliert, ist magersüchtig und nicht jede Person, die sich gelegentlich über die Maßen vollstopft, leidet an einer Bulimie. Aber für einige Betroffene bedeutet ein derartiges Verhalten den Beginn einer schwerwiegenden Essstörung. Je früher und plötzlicher Verhaltensänderungen im Zusammenhang mit Essen und Gewichtskontrolle bei Jugendlichen auftreten, um so früher sollten betroffene Eltern mit ihrem Kind ärztlichen Rat suchen.
Beobachtungen und Fragen
Es gibt einige frühe Zeichen, die signalisieren, dass Ihre Angehörige bzw. Ihr Angehöriger an Störungen im Essverhalten bzw. an einer echten Essstörung leidet:
- Die Person nimmt an Körpergewicht ab und verdeckt ihre Figur durch weite Kleidung.
- Die Angehörige bzw. der Angehörige geht gemeinsamen Mahlzeiten aus dem Weg
- Die Betroffenen vermeiden alle Nahrungsmittel, die Kohlenhydrate und Fette enthalten. Die Person isst sehr langsam, schneidet alles in kleine Stückchen und schiebt es auf dem Teller hin und her.
- Die Betroffenen sind sehr aktiv geworden, es fällt ihnen schwer Tätigkeiten in Ruhe durchzuführen. Jugendliche sind oft für ihr Alter unangemessen sportlich aktiv.
- Die Betroffenen trinken viel Kaffee, kalorienarme Getränke oder Wasser.
- Bei den Betroffenen treten Stimmungsschwankungen auf.
- Die Betroffenen ziehen sich zurück, nehmen an keinen sozialen Aktivitäten mehr teil.
- Es treten vermehrt Anfälle von Heißhunger auf, große Mengen von Nahrungsmitteln verschwinden aus dem Kühlschrank.
- Die betroffene Person könnte des Öfteren erbrechen. Sie nehmen auf dem WC unangenehmen Geruch wahr und entdecken Spritzer von Erbrochenem.
- Sie finden leere Schachteln von Abführmitteln.
- Sie stellen fest, dass die betroffene Person mehr Zeit als sonst am WC zubringt. Während der Mahlzeiten oder sofort danach geht sie auf die Toilette.
Ein erhöhtes Risiko für eine beginnende oder manifeste Essstörung besteht bei
- Patientinnen und Patienten mit niedrigem Körpergewicht
- Patientinnen und Patienten mit ausbleibender Regelblutung und Unfruchtbarkeit
- Patientinnen und Patienten mit Zahnschäden
- Patientinnen und Patienten, die mit Sorgen über ihr Gewicht in die Sprechstunde kommen
- Übergewichtige Patientinnen und Patienten, die zur Ärztin bzw. zum Arzt kommen, weil Diäten fehlschlagen
- Patientinnen und Patienten, die über Nahrungsunverträglichkeiten klagen
- Patientinnen und Patienten mit gastrointestinalen Störungen, die nicht eindeutig einer anderen medizinischen Ursache zugeordnet werden können
- Kinder mit Wachstumsverzögerung
- Patientinnen und Patienten, die im Unterhaltungsbereich, in der Mode- oder Ernährungsbranche arbeiten
- Leistungssportlerinnen und Leistungssportler
- Beschreiben Sie Ihr Essverhalten.
- Machen Sie sich Sorgen wegen Ihrer Ernährung?
- Machen Sie sich Sorgen wegen Ihres Gewichts?
- Wie beeinflusst Ihr Gewicht Ihr Selbstwertgefühl?
- Machen Sie sich Gedanken wegen Ihrer Figur?
- Essen Sie heimlich?
- Haben Sie versucht, durch Erbrechen oder auf andere Weise Kalorien los zu werden?
- Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können?
- Erfassung der Menarche und der Zyklusdauer
Bei Jugendlichen Entwicklungsstatus
Screening Fragen zur Selbsteinschätzung
Mit den folgenden Fragen kann eingeschätzt werden, ob einige Punkte bei Ihnen zutreffend sind und Ihre Lebensqualität dadurch beeinträchtigt ist.
Wenn mehrere der oben genannten Punkte auf Sie zutreffen und dadurch ihre Lebensqualität beeinträchtigt ist, sollten Sie mit einer Fachperson Kontakt aufnehmen um eine genaue diagnostische Einordnung zu gewährleisten.
- Ständiges Nachdenken über das Essverhalten
- Ständiges Nachdenken über Nahrungsmittel
- Einschränkungen in der Konzentrationsfähigkeit
- Mehrfach tägliches Wiegen, um Veränderungen des Körpergewichts zu kontrollieren
- Vermeidung von hochkalorischen, fetthaltigen oder kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln
- Auslassen von ganzen Mahlzeiten oder Mahlzeitenbestandteilen (z.B. Nachtisch)
- Vermeidung von Essen in Gemeinschaft, um Ablenkung im Essen zu vermeiden oder aus Scham über das eigene Essverhalten
- Erbrechen, entweder automatisch, nach Reizung des Rachenraums oder unterstützt durch chemische Substanzen, die Erbrechen fördern oder unterstützt durch Ekelvorstellungen
- Einnahme von Medikamenten (z.B. Abführmittel) zur Gewichtsreduktion
- Exzessiver Sport, der hauptsächlich dem Kalorienverbrauch dient
- Hervortreten von Rippen, Wirbelkörpern und Hüftknochen
- Kalte Hände und Füße
- Trockene Haut, schlecht heilende Wunden
- Blauverfärbte Lippen
- Zahnschäden
- Haarausfall
- Ausbleiben der Regelblutung
- Langsamer Herzschlag