Unter Essstörungen versteht man ernst zu nehmende psychische Erkrankungen mit seelischen, körperlichen und sozialen Folgen für die Betroffenen und deren Umfeld. Dabei spielen die Menge der aufgenommenen Nahrung bzw. das resultierende Körpergewicht eine bedeutende Rolle. Wohlbefinden und Verhalten stehen in engem Zusammenhang mit Gewicht und Körperform.

Typische Essstörungen

Patientinnen und Patienten mit Anorexia nervosa erleben sich selbst trotz Untergewichts als übergewichtig und verbinden dies mit dem Wunsch nach weiterer Gewichtsabnahme. Der Gewichtsverlust wird erreicht durch Einschränkung der Nahrungszufuhr, Erbrechen, übermäßige körperliche Aktivität oder Einnahme von Abführmitteln. Auffällige Symptome der Anorexie sind mehr oder weniger rascher Gewichtsverlust oder eine mangelnde körperliche Entwicklung in der Pubertät verbunden mit zunehmender Unterernährung.

Typische Zeichen von Magersucht sind

  • Eine Einschränkungder Energiezufuhr im Verhältnis zum Energiebedarf, diese führt zu einem deutlich erniedrigten Körpergewicht (BMI von 17,5 oder weniger bzw. bei Jugendlichen ein BMI unter der 10. Altersperzentile)
  • Es bestehen ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, trotz bestehenden Untergewichts oder ein konsequentes Verhalten um eine Gewichtszunahme zu vermeiden(Hungern, Einnahme von Abführmitteln oder harntreibenden Mitteln, bewusstes Erbrechen oder übermäßiger Sport).
  • Die Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichtes ist gestört, Gewicht und Figur haben einen übermäßigen Einfluss auf den Selbstwert, und der Schweregrad der Erkrankung wird selbst nicht ausreichend wahrgenommen.

Im Verlauf der Entwicklung einer Magersucht können Stimmungsschwankungen auftreten, Betroffene neigen dazu, sich zurück zu ziehen, leiden manchmal an Schlafstörungen. Im weiteren Verlauf können andere psychische Störungen wie Angststörungen und depressive Verstimmungen dazu kommen.

Auch körperliche Beschwerden sind häufig die Folge von Magersucht: Völlegefühl nach dem Essen, Sodbrennen, Bauchschmerzen, Verstopfung, Schwindel und Kreislaufversagen, Muskelschwäche, Osteoporose, Ausbleiben der Monatsblutung, trockene Haut, Zahnschäden, Kälteempfindlichkeit. Bei Jugendlichen kommt es bei frühem Beginn der Erkrankung zu Verzögerungen der Pubertätsentwicklung (Ausbleiben der Monatsblutung, der sekundären Geschlechtsmerkmale und des Größenwachstums).

Essgestörte Patientinnen und Patienten suchen häufig primär Hilfe wegen ihrer körperlichen Beschwerden!

Patientinnen und Patienten mit Bulimia nervosa haben Heißhungerattacken mit Kontrollverlust, das heißt große Mengen von Nahrungsmitteln werden hastig verschlungen. Anschließend versuchen die Patientinnen und Patienten auf unterschiedliche Weise, dem übermäßigen Essen entgegen zu wirken, indem sie z.B. kurz nach dem Essanfall die Nahrung erbrechen. Dadurch können die Betroffenen das Gewicht halten und nehmen nicht an Gewicht und Körperumfang zu.

Typische Zeichen von Bulimie sind:

  • Wiederholte Episoden von heimlichen Essanfällen (Heißhungeranfällen), gekennzeichnet durch
    • ungewöhnlich große Nahrungsmengen(in einer umschriebenen Zeit wird mehr gegessen als die meisten Menschen in einer ähnlichen Zeitspanne und unter ähnlichen Umständen zu sich nehmen würden)
    • ein Gefühl des Kontrollverlusteswährend des Essanfalls tritt auf.
  • Danach wird versucht, dem gefürchteten Gewichtsanstieg durch kompensatorische Verhaltensweisenentgegenzuwirken, wie etwa durch
    • gezügeltes Essverhalten/Fasten, übermäßigen Sport
    • selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Appetitzüglern und Abführmitteln
  • Die Selbstbewertung wird übermäßig stark von Gewicht und Figur abhängig gemacht.

Die Erkrankung ist häufig von Verheimlichung und Scham geprägt. Es können Stimmungsschwankungen, Selbstabwertungen und sozialer Rückzug auftreten.

Körperliche Folgen sind häufig Zahnschäden, Schwellungen der Speicheldrüsen, Sodbrennen, Osteoporose, Zyklusstörungen und Elektrolytstörungen (z.B. Hypokaliämie) mit Auswirkungen auf Darm-, Nieren- und Herzfunktion.

Menschen mit Binge-Eating-Störungen haben Essanfälle ohne gegensteuernde Maßnahmen. Wegen der Symptome besteht häufig ein großer Leidensdruck.

Typische Zeichen von Esssucht sind:

  • Wiederholte Episoden von Essanfällen, gekennzeichnet durch
  • ungewöhnlich große Nahrungsmengen
  • Kontrollverlust
  • Die Essanfälle treten gemeinsam mit mindestens 3 der folgenden Symptome auf:
  • Wesentlich schnelleres Essen als normal
  • essen bis ein unangenehmes Völlegefühl auftritt
  • Aufnahme von großen Nahrungsmengen auch ohne Hunger
  • Alleine essen aus Verlegenheit
  • Ekelgefühle, Deprimiertheit, große Schuldgefühle nach dem Essen
  • Es besteht deutliches Leiden wegen der Essanfälle.
  • Die Essanfälle treten an mindestens 1 Tag/Woche für 3 Monate auf.
  • Die Essanfälle treten ohne regelmäßigen Einsatz von kompensatorischen Verhaltensweisen

Esssucht kann in verschiedenen Ausprägungen auftreten.

Wenn es zu wiederholten Essanfällen mit Verlust der bewussten Kontrolle über das Essverhalten kommt, wird dafür üblicherweise der Begriff Binge-Eating-Störung verwendet. Im Gegensatz zur Bulimie werden nach dem Essanfall keine regelmäßigen Maßnahmen ergriffen, um eine Gewichtszunahme zu verhindern. Deshalb geht diese Essstörung längerfristig häufig mit Übergewicht einher. Übermäßiges Essen kann auch eine Reaktion auf emotional belastende Ereignisse oder Depressionen sein und über den ganzen Tag verteilt ohne feste Mahlzeiten auftreten. Die Betroffenen können ihr Essverhalten nicht steuern und in manchen Fällen ist ihnen auch nicht bewusst, wie viel sie tatsächlich essen. Schweres Übergewicht ist die Folge, insbesondere bei Personen, die eine Veranlagung dazu haben.

Die Entwicklung einer Esssucht ist vom Gefühl des Kontrollverlustes und der Scham geprägt, häufig kommen Stimmungsschwankungen und sozialer Rückzug dazu. In weiterer Folge können depressive Verstimmungen und Angststörungen auftreten.

Die möglichen körperlichen Folgen sind Erkrankungen, die mit Übergewicht assoziiert werden, wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Blutfetterhöhung etc.

Atypische Essstörungen

Magersucht (Anorexia nervosa) und Bulimie (Bulimia nervosa) sind Beispiele innerhalb eines weiten Spektrums von Essstörungen. Der überwiegende Anteil der Patientinnen und Patienten, die sich zur ambulanten Behandlung vorstellen, leidet an atypischen Essstörungen.

Der überwiegende Anteil der Frauen und Männer, die sich heute zur ambulanten Behandlung vorstellen, erfüllen nicht die vollen Kriterien einer klassischen Essstörung. Dazu gehören

  • unvollständige Ausprägungen der klassischen Essstörungen, wie
    • Atypische Anorexie: z.B. Gewicht im Normbereich
    • Atypische Bulimie: z.B. geringere Häufigkeit oder Dauer
    • Atypische Binge-Eating-Störung: z.B. geringere Häufigkeit oder Dauer
  • neue Syndrome, die forschungsmäßig nicht ausreichend abgesichert sind, wie
    • Night Eating Syndrom: 25 Prozent der täglichen Kalorienmenge wird nach dem Abendessen aufgenommen, nächtliches Erwachen mit Nahrungsaufnahme in mindestens drei Nächten pro Woche. Dieses Essverhalten scheint in engem Zusammenhang mit psychischem Stress aufzutreten und führt zu einer Verschiebung des Tagesrhythmus.
    • Purging Disorder (to purge = reinigen): es werden keine Essanfälle mit Kontrollverlust angegeben, kompensatorische Maßnahmen um das Gewicht zu regulieren werden nach normalen Mahlzeiten und Snacks angewendet, weil die aufgenommene Nahrungsmenge nicht akzeptiert werden kann. Die Störung kommt häufiger vor als Anorexie und Bulimie.
  • Übergänge von Essstörungen, wie sie im Langzeitverlauf vorkommen können

Bei der Orthorexie (orthos = richtig; orexis = Appetit) steht nicht die Quantität, sondern die Qualität des Essens im Vordergrund. Betroffene sind krankhaft fixiert auf gesundes Essen und versuchen ungesundes zu vermeiden. Und das kann intensive Ausmaße annehmen: Sie grübeln Stunden des Tages über Nährwerttabellen, prüfen den Vitamingehalt der von ihnen verzehrten Lebensmittel und versuchen immer gesündere Lebensmittel zu bekommen – auch wenn sie z.B. ihre Hirse in Afrika bestellen müssen.

Einige Medizinerinnen und Mediziner sehen die in Fachkreisen als Orthorexia nervosa bezeichnete Essstörung nicht als eigenständiges Krankheitsbild, sondern als Zwangsstörung, die aber durchaus in eine manifeste Essstörung (wie z.B. Magersucht) münden kann. Andere halten die Fixierung auf gesundes Essen für ein Teilsymptom einer bereits bestehenden Essstörung. Wegen dieser Schwierigkeiten der Zuordnung ist die Orthorexia nervosa (derzeit) nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt.

Bei Betroffenen entsteht diese Sonderform einer Essstörung immer im Zusammenhang mit intensiver sportlicher Betätigung. Es besteht der Wunsch zur Reduktion des Körperfetts und v.a. bei Männern der Wunsch nach Muskelaufbau. Die qualitative Zusammensetzung der Nahrung ist ebenso mangelhaft (Eiweißprodukte zum Muskelaufbau, hormonwirksame Substanzen) wie die Nahrungsmenge. Eine Regulation durch Erbrechen oder Abführmittel kommt häufig vor. Vor allem aber trainieren die Betroffenen über die empfohlenen Trainingspläne hinaus teilweise exzessiv. Bei Athletinnen kommt es zur typischen Trias mit Anorexie, Amenorrhoe und Osteoporose. Die Anorexia athletica betrifft oft besonders sportliche Personen (Laufsport, Radsport, Triathlon, Eiskunstlauf, Schisprung, Turnen, Balletttanz, etc.).

Die vermeidend-restriktive Ernährungsstörung wird, ebenso wie die beiden anschließend beschriebenen Störungsbilder Pica und Ruminations- und Regurgitationsstörung, im überarbeiteten Diagnosesystem International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 11 (ICD-11) der WHO als eigenständiges Störungsbild aufgenommen. Kennzeichnend sind eine Einschränkung oder Vermeidung der Nahrungsaufnahme, verbunden mit einer erheblichen Gewichtsabnahme und einer signifikanten psychosozialen Beeinträchtigung. Im Gegensatz zur Magersucht bestehen bei ARFID keine Figur- und Gewichtssorgen. Dieses heterogene klinische Bild kann in jedem Altersbereich auftreten, bei Säuglingen, (Klein)Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Unter dem Krankheitsbild Pica versteht man den Verzehr nicht nahrhafter Stoffe (z.B. Ton, Erde, Kreide, Gips, Plastik, Metall und Papier) oder roher Nahrungsmittelbestandteile (z.B. große Mengen Salz oder Maismehl), der anhaltend oder schwerwiegend genug ist, um klinische Behandlung zu erfordern. Die Diagnose wird erst ab etwa 2 Jahren gestellt, ein Entwicklungsalter, indem man erwarten würde, dass zwischen essbaren und nicht essbaren Stoffen unterschieden werden kann. Das Verhalten verursacht gesundheitliche Schäden, Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit und beinhaltet ein erhebliches Risiko je nach Häufigkeit, Menge oder Art der aufgenommenen Substanzen oder Gegenstände.

Unter diesem Störungsbild versteht man ein absichtliches und wiederholtes Zurückbringen zuvor geschluckter Nahrung in den Mund (Regurgitation), erneutes Kauen und Schlucken (Rumination) oder absichtliches Ausspucken (jedoch nicht wie bei Erbrechen). Dieses Verhalten tritt häufig über den Zeitraum von mehreren Wochen auf. Wichtig ist ein Ausschluss von anderen Erkrankungen, die direkt zu Regurgitation führen und ein Entwicklungsalter von mindestens 2 Jahren.

Essstörungen bei Männern

Der Anteil männlicher Betroffener bei Magersucht und Bulimie wurde lange Zeit unterschätzt, da Essstörungen als typische Frauenerkrankung galten. Essstörungen treten bei Frauen häufiger auf als bei Männern, das Geschlechterverhältnis zwischen Frauen und Männern beträgt 10 zu 1. Bei der Binge-Eating-Störung sind die Geschlechterverhältnisse ausgeglichener. In der Symptomatik zeigen sich zwischen den Geschlechtern mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Bei beiden Geschlechtern stellen negativer Affekt, aber auch übertriebene Orientierung an Schönheitsidealen auslösende und aufrechterhaltende Faktoren dar. Im Gegensatz zum Streben nach einem schlanken Körper ist für männliche Betroffene ein Streben nach einem muskulären Körper typisch. Eine Anorexie entwickelt sich bei Männern häufig aus übertriebenem sportlichem Ehrgeiz heraus.

Essstörungen sind bei Männern sowie bei Frauen kulturgebundene Störungen, die in Kulturen vorkommen, in denen das Ideal eines schlanken und muskulösen Körpers vorherrscht und ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung stehen.

Magersucht und Bulimie beginnen in der Jugend. Obwohl junge Männer die ersten Symptome dieser Essstörungen einige Jahre später zeigen als junge Frauen, ist auch bei ihnen die Pubertät häufig im Entstehungsprozess der Erkrankung mitbeteiligt. In der Pubertät zeigt der männliche Körper mehr Muskelzuwachs, während der Körper von Mädchen deutlich an Körperfett gewinnt. Dies führt häufig zu Körperunzufriedenheit und im Zusammenspiel mit anderen Faktoren oft zu erstem Diätverhalten.

Dieser wesentliche geschlechtsspezifische Unterschied in der Körperentwicklung von Jungen wird als möglicher Schutzfaktor für die Entstehung von Essstörungen diskutiert und dient als Erklärung für die niedrigeren Raten von Essstörungen bei Männern.

Das Streben nach einem bestimmten Körperideal ist ein in der Bevölkerung weit verbreitetes Ideal. Bei Frauen steht eher ein schlankheitsorientiertes Körperideal im Vordergrund, während Männer häufiger nach einem muskelorientierten Körperideal streben. Solange solche Zielsetzungen zu einem maßvollen Ausdauer- und Krafttraining und einer ausgewogenen Ernährung führen, können sie als gesundheitsförderlich eingestuft werden. Kommt es allerdings zu einem exzessiven Krafttraining oder den Gebrauch von anabol-androgenen Steroiden zur Unterstützung des Muskelaufbaus, kann dies einen Risikofaktor für die Entstehung von Essstörungen darstellen.

Wenn junge Männer eine Diät beginnen oder die Nahrungsaufnahme reduzieren, so ist dies meist Folge realen Übergewichts.

Berufe, in denen der Körper, die Figur, das Gewicht, das Aussehen und die körperliche Leistung eine wesentliche Rolle spielen (z.B. Tänzer, Model), sind häufiger mit gestörtem Essverhalten und Essstörungen verbunden als andere Berufsgruppen. Dies trifft sowohl für Männer als auch für Frauen zu. Ringkampf, Bodybuilding, Sportreiten, Skispringen sind Sportarten, die hauptsächlich von Männern ausgeführt werden und das Risiko für ein gestörtes Essverhalten erhöhen. Wenn Zeichen von Magersucht oder Bulimie auftreten, so zeigen die Erkrankungen einen ähnlichen Verlauf wie bei Frauen. Wenn Krankheitszeichen auftreten, dauert es häufig lange, bis sich Männer zu einer Behandlung entschließen. Man erklärt sich dies damit, dass Essstörungen als Frauenerkrankungen gelten. Gelingt essgestörten Männern der Schritt zur Therapie, so können sie oft schnell gesundheitsförderliche Verhaltensweisen umsetzen.

Bei essgestörten Männern tritt bei 60 bis 80 Prozent eine psychiatrische Komorbidität auf, beispielweise Suchterkrankungen oder affektive Störungen. Sexueller Missbrauch sowie homosexuelle bzw. bisexuelle Ausrichtung gelten als Risikofaktoren für die Entwicklung von Essstörungen bei Männern.

Die Behandlung von Essstörungen ist geschlechtsunspezifisch: Gewichtsrehabilitation, Strukturierung und Stabilisierung des Essverhaltens in Kombination mit Psychotherapie sind die Therapiemethoden der Wahl.